Drinnen und Draußen

Der Soziologe Martin Kronauer im Interview

Für mein vierteiliges Radiokolleg Inklusion als Perspektive – Leitlinien einer offenen Gesellschaft habe ich eine Reihe ausführlicher und erhellender Gespräche mit engagierten Fachleuten in Österreich und Deutschland geführt. Einer von ihnen ist Martin Kronauer, seines Zeichens Professor an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin.

 

Der Soziologe erforscht seit vielen Jahren die neuen sozialen Ungleichheiten. Sein lesenswertes Buch Exklusion – Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus erschien 2010 in aktualisierter Auflage im Campus Verlag. Da seine wichtigen und richtigen Aussagen in meiner Radiosendung viel zu kurz kamen, stelle ich hier das (nahezu ungekürzte) Transkript des Interview mit Martin Kronauer zum Nachlesen ins Blog.

Zur Konjunktur des Exklusionsgedankens

Frage: Ich möchte einige der Aspekte ansprechen, die Sie in Ihrem Buch „Exklusion – Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus“ beschreiben. Steigen wir zeitgeschichtlich ein: In den 1980er Jahren gewinnt die Thematisierung von Exklusion an Bedeutung. Was macht denn in dieser Zeit die Konjunktur des Exklusionsgedankens aus?


Die Konjunktur des Exklusionsgedankens lässt sich nur erklären vor dem Hintergrund einer Phase der Inklusion wie sie historisch einmalig war. Nämlich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, und das eigentlich in den meisten europäischen Ländern. Die Lohnabhängigen waren in einer Weise auf einmal Teil der Gesellschaft, der bürgerlichen Gesellschaft, geworden wie nie zuvor. Und zwar einmal durch die relative Vollbeschäftigung nach dem Krieg. Das heißt vor allem die Vollbeschäftigung von Männern, weniger von Frauen. Zum anderen durch die Ausweitung der sozialen Sicherungssysteme, der Ausweitung der Rentensysteme vor allem, aber auch der Arbeitslosenversicherung, die in Deutschland noch in den 1920er Jahren im Zuge der Krise zusammengebrochen war. Die Ausweitung sozialer Rechte auf die Lohnabhängigen hat dazu geführt, dass die Einkommensungleichheit in den meisten europäischen Ländern, so auch in Deutschland und in Österreich, zurückgegangen ist, dass die Armut zurückgegangen ist und dass die Arbeitslosigkeit eigentlich verschwunden ist.

 

Und diese Periode ging etwa bis Ende der 1970er Jahre, Anfang der 1980er Jahre und dann kam zum ersten Mal eine Kehrtwendung, eine zunehmende Einkommensungleichheit und vor allem die Wiederkehr der Arbeitslosigkeit. Die Bürgerinnen und Bürger dieser Gesellschaften hatten vorher erfahren, dass Armut und Arbeitslosigkeit nicht hingenommen werden müssen. Das war das Neue an dieser Periode. Jetzt hat sich plötzlich gezeigt, dass Armut und Arbeitslosigkeit nicht mehr wie vorher bekämpft und sozial staatlich aufgefangen wurden, und dass diejenigen, die längerfristig arbeitslos und arm wurden, auf neue Weise mit dem Problem konfrontiert waren, überhaupt am gesellschaftlichen Leben – so wie es ja selbstverständlich geworden war – teilhaben zu können.

 

Das hat dann vor allem zunächst in Frankreich, dann aber von Frankreich ausgehend überall im Bereich der europäischen Union das Thema Exklusion, soziale Ausgrenzung auf die Tagesordnung gebracht. Denn es war nun nicht mehr nur Arbeitslosigkeit und Armut wie vorher, sondern es war eigentlich der Verlust an Lebenschancen, wie sie sich vorher in den ersten 25 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hatten. Diese standen nun nicht mehr allen zur Verfügung. Und von daher wurde es ein Thema der Ausgrenzung, und nicht nur der Armut und nicht nur der Arbeitslosigkeit. Vor allem auch deshalb, weil große Teile der Bevölkerung ja nach wie vor inkludiert waren. Das heißt, es gab neue Spaltungslinien in der Gesellschaft.

Dimensionen von Inklusion und Exklusion

Frage: Können Sie das noch genauer ausführen: Exklusion ist als mehr als Armut, es ist mehr als am Rande zu stehen. Exklusion ist ein kompliziertes Geflecht von Nicht-Teilhabe an Institutionen, an politischer Mitbestimmung: Was zeichnet diese neue Form der Exklusion konkret aus?


Wenn wir noch mal zurückgehen auf die Form der Inklusion, dann kann man sagen, dass drei Dimensionen der gesellschaftlichen Zugehörigkeit und Teilhabe immer wichtig sind: Also auf der einen Seite, dass man am Arbeitsmarkt eine Chance hat, die Beteiligung an Erwerbsarbeit, das ist zumindest in unseren Gesellschaften, die sich sehr über Erwerbsarbeit definieren, eine ganz wichtige Dimension. Dazu kommt die Teilhabe an gesellschaftlich anerkannten Arbeitsformen, selbst wenn sie nicht Erwerbsarbeit sind, also etwa Haushalt, immer noch eine weitgehend Frauen zugeschriebene Aufgabe. Dann die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben über Bürgerrechte, das heißt Teilhabe über persönliche, politische und soziale Rechte. Also durch die sozialen Rechte in der Lage zu sein, einen kulturell angemessenen Lebensstandard zu haben. Und schließlich die Einbindung in soziale Nahbeziehungen, Verlässlichkeiten, Solidaritäten in den Verwandtschaftskreisen, aber auch in Bekanntschafts- und Freundschaftskreisen.


Exklusion spiegelt sich nun in all diesen drei Dimensionen wider. Das Wichtige dabei ist, dass diese Dimensionen eng miteinander verbunden sind. Also Menschen, die am Arbeitsmarkt scheitern oder die immer wieder arbeitslos werden oder gar ganz aus der Erwerbslosigkeit herausfallen und keine gesellschaftlich anerkannte Alternative haben, etwa als Rentner, oder eben auch wie es lange Zeit der Fall war, in der Hausfrauenrolle. Diese Menschen bekommen gleichzeitig auch in den anderen Dimensionen Schwierigkeiten. Sie wissen ja, dass die sozialen Sicherungssysteme sehr eng an Erwerbsarbeit gekoppelt sind. Und Leute, die in der Erwerbsarbeit keine oder geringe Ansprüche erwerben, etwa in der Arbeitslosen- oder in der Altersversicherung, drohen dann mit der Arbeitslosigkeit unter die Armutsgrenze zu fallen. Es gibt dann eine enge Verbindung zwischen Arbeitsmärkten, sozialer Sicherung und den persönlichen Nahbeziehungen. Um es etwas zugespitzt zu sagen: Die Heiratsmärkte und die Arbeitsmärkte sind eng miteinander verbunden. Also Menschen die arbeitslos sind, sind auch nicht sehr attraktiv als Partner für Heiraten oder umgekehrt: Menschen, die in prekären, schwierigen Situationen längere Zeit leben, deren soziale Beziehungen geraten unter Stress. Also sie sind auch in Gefahr, in dieser Hinsicht die Teilhabemöglichkeiten zu verlieren.


Wenn dieser Zustand längere Zeit andauert, dann verbinden sich diese verschiedenen Dimensionen zu Teufelskreisen. Dann kann es zu dem Punkt kommen, dass man aus der gesellschaftlich anerkannten Arbeitsteilung tatsächlich völlig heraus fällt, dass man sich gleichzeitig den Lebensstandard nicht mehr leisten kann, wie er eigentlich in der Gesellschaft angenommen und erwartet wird. Und dass man schließlich auch sozial isoliert wird. Diesen Zustand kann man dann als eine gesellschaftliche Ausgrenzung bezeichnen. Damit fallen die Leute allerdings nicht aus der Gesellschaft heraus, sondern sie bleiben in der Gesellschaft, aber eben als Menschen, die dort nicht jene Teilhabemöglichkeiten haben wie sie für andere selbstverständlich sind. 

Ausgrenzung IN der Gesellschaft

Frage: Mit dem Begriff der Exklusion sind Ihrer Ansicht nach viele Missverständnisse verbunden?


Das ist vielleicht eines der größten Missverständnisse, die mit dem Begriff der Exklusion verbunden sind, dass die Menschen sozusagen aus der Gesellschaft herausfallen. Wenn man Ausgrenzung so versteht, dann ist das sehr schnell eine zusätzliche Waffe gegen die Ausgegrenzten. Wenn man die Grenzen zwischen dem Innen und Außen so zieht, dass man sagt: Die, die drinnen sind, das sind die Respektablen, die Anerkannten. Und die, die draußen sind, das sind eigentlich die, die aus der Gesellschaft herausfallen. Dann kann man das leicht missverstehen: Das sind die ‚Asozialen’. Tatsächlich sind aber diese Menschen innerhalb der Gesellschaft ausgegrenzt.


Nehmen wir das Beispiel Langzeitarbeitslose, die ja immer noch mit der Arbeitsverwaltung konfrontiert sind. Die Menschen, die arbeitslos sind, fühlen in sich – und das wird von ihnen auch von außen erwartet –, dass sie immer noch erwerbstätig sein sollen, aber sie haben keine Erwerbstätigkeit. Das heißt, sie fühlen sich gerade deshalb so ausgegrenzt, weil sie aus der Arbeitsgesellschaft nicht fliehen können. Es gibt für sie keine Alternative, sie stecken drinnen und können trotzdem die Erwartungen, die andere und sie selbst an sich haben, nicht erfüllen.


Genauso ist es mit der Armut und deshalb hat die Armut heute eine besondere Qualität. Ein bestimmter Lebensstandard wird in der Gesellschaft von allen erwartet, man lebt in einer Konsumgesellschaft, in der man bombardiert wird mit dem, was man sich leisten können muss, um dazu zu gehören. Und das gilt über die gesellschaftlichen Schichten und Klassen hinweg. Gerade deshalb ist Armut nicht nur ein absoluter Mangel, sondern wird auch erfahren als ein Nicht-Mithalten-Können, ein Nicht-Dazugehören. Das ist etwas, das relativ neu ist. Also in früheren Jahren, in den 1920er Jahren oder noch früher, wären die Lebenswelten der Adeligen, der Bürger, der Arbeiter so verschieden gewesen, dass man eigentlich gar keine gemeinsamen Ansprüche an einer gemeinsame Lebensweise gehabt hätte. Heute hingegen zeigt sich in repräsentativen Befragungen in westlichen Ländern, dass trotz Einkommensungleichheit und sozialer Ungleichheit eine weitgehende Übereinstimmung darin besteht, was eigentlich zu einem kulturell angemessenen Leben dazu gehört. Und gerade das ist auch eine neue Qualität von Armut, dass es diese gemeinsamen Maßstäbe gibt, denen man nicht entsprechen kann.

Auflösung der Solidaritätsmilieus

Frage: Zum Beispiel, wenn Kinder nicht auf Schulskikurs mitfahren können, das ist für manche Eltern eine äußerst prekäre Situation. Damit baut sich also ein enormer psychologischer Druck auf?


Ja, es zeigt sich gerade bei den Kindern. Ich habe in meiner Forschungslaufbahn sehr viele Interviews mit Arbeitslosen und Studien über Arbeitslosigkeit gemacht. Da wird immer wieder gesagt, dass man alles tut, damit die Kinder mithalten können mit ihren Klassenkameraden, und wie schwer das fällt, und dass sich die Erwachsenen sehr viel vom Mund absparen, damit das möglich ist. Und dieses Sich-Vergleichen und immer wieder Verglichen-Werden, das ist eigentlich eine Falle, aus der man nicht herauskommt.


Genauso wenig kommen auch die Arbeitslosen aus den Erwartungen nicht heraus, dass sie eigentlich erwerbstätig sein müssten. Also deshalb ist es ganz wichtig, wenn man über Ausgrenzung spricht, dass das Ausgrenzung in der Gesellschaft ist und Ausgrenzung wird in der Gesellschaft erfahren. Das ist keine Ausgrenzung aus der Gesellschaft.


Ich denke, ein weiterer wichtiger Punkt ist mit dem Ausgrenzungsbegriff verbunden: Es ist eine neue Art von Spaltung in der Gesellschaft, weil sehr viele Menschen ja nach wie vor im Erwerbsleben, in den sozialen Sicherungssystemen, in den sozialen Beziehungen gut eingebunden sind. Es ist also heute eine Teilung der Gesellschaft, die sich auftut.


Man kann sagen, vor dem Krieg war Arbeitslosigkeit und zeitweise Verarmung ein Schicksal, das immer mit der Arbeiterschaft verbunden war. Durch die Periode des Ausbaus der sozialen Sicherungssysteme ist das nun überhaupt nicht mehr selbstverständlich. Und auch für viele Lohnabhängige gilt heute, dass sie immer noch eingebunden sind. Also die klassischen Solidaritätsmilieus haben sich nach dem Krieg aufgelöst. Auch die Hilfsvereine usw. haben sich im Zuge einer neuen Individualisierung aufgelöst, gleichzeitig bleibt aber die Ungleichheit bestehen. Und deswegen sind diejenigen, die in diese Ausgrenzungsprozesse hinein geraten, sehr viel stärker isoliert, haben keinen politischen Rückhalt, haben keinen Rückhalt in den früheren Unterstützungsmilieus. Auch das ist eine neue Qualität, die etwas mit der Geschichte der Inklusion zu tun hat, die vorausgegangen ist.

Ausschluss als Zustand und Prozess

Frage: Das heißt, Exklusion isoliert, aber die Ausgeschlossenen haben heute keine legitimen Kampfmittel mehr in der Hand?


Ja, aber das darf nicht darüber hinweg täuschen, dass auch heute noch Ausgrenzungsprozesse vor allem die Arbeiterschaft treffen. Sozial strukturierte Ungleichheit ist keineswegs aufgehoben. Sie ist nicht mehr so sichtbar in den verschiedenen Milieus, aber die Risiken arbeitslos, langzeitarbeitslos zu werden, die Risiken im sozialen Sicherungssystem untergeschützt zu sein, die treffen vor allem Menschen, die am Arbeitsmarkt von vorneherein am verwundbarsten waren. Also gering qualifizierte Menschen, die von ihren Einkommensmöglichkeiten am Arbeitsmarkt schon von vorneherein eingeschränkt waren.


Ein weiterer wichtiger Punkt im Exklusionsprozess ist: Exklusion im Wortsinn ist ja schon ein Begriff, der zwei Bedeutungen hat. Auf der einen Seite ist Ausgrenzung ein Zustand. Leute können sich in einem Zustand befinden, in dem sie sich selbst auch so wahrnehmen, als von der Gesellschaft gewissermaßen abgehängt. Im andern Wortsinn ist Ausgrenzung ein Prozess. Ein Prozess, der vorangetrieben wird von ausgrenzenden Akteuren und Faktoren. Und es ist ein Prozess, der im eigenen Leben über einen Zeitraum verläuft. Das ist sehr wichtig, weil Ausgrenzung als Prozess betrachtet ist eigentlich ein Endzustand, der sehr viel früher schon in der Biografie mit einer Entsicherung beginnt. Also man ist eben am Arbeitsmarkt nicht mehr so stabil eingebunden, man ist nicht mehr stabil in die sozialen Sicherungssysteme eingebunden oder vielleicht hat man auch von vorneherein gar keinen Zugang zum Arbeitsmarkt gehabt. In Deutschland und in Österreich gilt das zum Beispiel für Asylbewerber, die überhaupt nicht arbeiten dürfen. Oder nehmen Sie illegalisierte Migranten, die offiziell nicht im sozialen Sicherungssystem eingebunden sind.


Also Ausgrenzungsprozesse verlaufen biografisch über Zeiträume hinweg. Und nehmen wir noch mal den Fall der Arbeitslosigkeit an: Da kann zunächst eine intakte Partnerschaft hilfreich sein, eine Stütze bieten. Oder am Anfang greifen die Arbeitslosenversicherungen und schützen vor Armut. Aber je länger der Zustand andauert, desto schwieriger ist es ihn zu kompensieren. Und desto schwächer werden die kompensierenden Ressourcen. Deshalb ist es auch wichtig, dass man solche Prozesse so früh wie möglich stoppt, damit sie nicht von der einen in die andere Dimension überspringen können. Also die Mehrdimensionalität und der Prozesscharakter von Ausgrenzung sind zentral und da muss auch dann die Intervention einsetzen. 

Vom Rand ins Zentrum

Frage: Wie Sie auch in Ihrem Buch analysieren, sind Ausgrenzungsprozesse keine Randphänomene. Ausgrenzung beginnt im Zentrum der Gesellschaft – wie ist das genau zu verstehen?


Diese sozialen Entgrenzungen haben eine lange Geschichte, die in den 1970er und 80er Jahren beginnt. Sie erreichen in unterschiedlichen Abstufungen auch Gruppen in der Gesellschaft, die relativ stabil am Arbeitsmarkt und in sozialen Sicherungssystemen verankert sind, aber gleichwohl die Veränderung merken. Also, es gibt in Deutschland und in anderen europäischen Ländern inzwischen auch eine große Diskussion über die verunsicherte Mitte. Diese Unsicherheiten machen sich zum Beispiel an folgenden Fragen fest: Ist das, was man sich über die Pensionskassen erwarten kann, ausreichend? Wie sieht es mit den Arbeitsbedingungen selbst aus? Wie ist es mit der nächsten Generation, den Kindern – welche Chancen haben die? Werden die Kinder es schaffen, sich über das Bildungssystem in eine vergleichbare Situation wie die eigene einzuklinken?


Also diese Verunsicherung bei noch relativ stabiler Einkommenslage in der gesellschaftlichen Mitte über die Prekarisierung an den Rändern der Mitte bis hin zur Entsicherung und zur Ausgrenzung: Das hat gemeinsame Ursachen, die etwas mit der Veränderung im ökonomischen Leben zu tun haben, mit der starken Rolle, die inzwischen die Finanzmärkte ausüben auf die Realökonomie mit den neuen Unternehmensstrategien der so genannten Flexibilisierung und gleichzeitig der strategischen Auslagerung und der tariflich schlechteren Bezahlung von Beschäftigungsgruppen, mit der Liberalisierung und Privatisierung von öffentlichen Gütern.

 

Der öffentliche Dienst ist auch immer stärker an betriebswirtschaftlichen Managementmethoden ausgerichtet. Viele Bereiche, die Telekom, Post etc. wurden ja privatisiert. Auch das führt dazu, dass Beschäftigungsverhältnisse instabiler werden. Es führt zu Befristungen, Leiharbeit, bei Frauen zu sozialversicherungsmäßig nicht abgesicherter Teilzeit. Früher sollte auch die Pension den Lebensstandard sichern, jetzt geht es immer mehr um eine Basissicherung und die Menschen sollen sich privat versichern, wird gefordert, was wieder zur Folge hat, dass es die mit weniger Einkommen schwerer haben. Also das sind Prozesse tiefgreifender Veränderung am Arbeitsmarkt, in der Ökonomie, bei sozialstaatlichen Regulierungen, die die gesamte Gesellschaft erfassen und sich in unterschiedlichen Abstufungen als Unsicherheit oder schließlich Entsicherung oder Ausgrenzung niederschlagen.

 

Auf der anderen Seite gibt es natürlich die Profiteure. Also die Einkommensungleichheit und die Verteilung des Reichtums wird im krasser. Es gibt auch die Gewinner dieser Entwicklung. Und ich glaube man muss, wenn man über Ausgrenzung spricht, alle diese Facetten zusammen denken. Das Schicksal der von Ausgrenzung Bedrohten ist eng verbunden mit dem Schicksal derer, die sich verunsichert fühlen in der gesellschaftlichen Mitte, die unter zunehmendem Stress stehen. Allerdings machen sich die Auswirkungen unterschiedlich und abgestuft bemerkbar. Das kann dazu führen, dass die Unterschiede stärker betont werden, dass jeder versucht, die eigene Sicherheit in Abwehr anderer zu suchen. Es kann aber auch anders gehen, nämlich indem wir über Solidaritäten nachdenken. 

 

Schutz vor Marktabhängigkeit

Frage: Der Arbeitsmarkt ist eine zentrale Inklusionsinstanz. Sie schlagen in Ihrem Buch eine andere Politik vor, die dass Verhältnis von gesellschaftlicher Inklusion und Erwerbsarbeit neu denkt. Es braucht Ihrer Meinung nach neue Modelle, damit sich die Menschen weiterhin als Teil den Ganzen fühlen können. Was muss also geschehen?


Ich denke, eine ganz wichtige Lektion aus der Diskussion um soziale Ausgrenzung ist – um noch mal anzuknüpfen an dem Begriff der Mehrdimensionalität: Inklusion ist davon abhängig, dass man als Bürger inkludiert ist, dass man als Bürger Teilhabemöglichkeiten hat, mit persönlichen, politischen und vor allem auch mit sozialen Rechten, dass man Zugang zur Erwerbsarbeit hat, dass man aber auch in seinen privaten Verhältnissen Spielräume hat, diese selbst zu gestalten. Daraus würde folgen, dass man in allen drei Dimensionen wieder den Schutz der Individuen vor dem Markt verstärken muss, dass man den Bürgerstatus schützen muss vor der Marktabhängigkeit. Das heißt zum Beispiel, dass man Bildung, Gesundheit, Wohnen wieder als öffentliche Güter wahrnehmen und verteidigen muss, dass man die sozialen Sicherungssysteme so gestalten muss, dass die Menschen über ihren Lebensverlauf hinweg sicher sein können, dass sie einen kulturell angemessenen Lebensstandard haben.


Auf Ebene der Erwerbsarbeit heißt es, dass die Menschen nicht mehr in völliger Abhängigkeit von den Unternehmen ihre Arbeit gestalten müssen, sondern dass sie eigene Gestaltungsspielräume wieder zurück erhalten. Ich glaube, dass viele Beschäftigte heute Interesse an flexiblen Arbeitszeiten haben. Aber im Moment findet Flexibilisierung wesentlich unter dem Diktat der Arbeitgeber statt. Es muss daher wieder Sicherheiten innerhalb der Erwerbsarbeit geben, die die Balance wieder verschieben. Dabei ist es auch wichtig, dass da wieder eine Lebenslauf-Perspektive reinkommt. Wir müssen neue Formen der Absicherung von Übergängen finden, Kinder, Auszeit bei Burnout …, ohne dass die Menschen fürchten müssen entweder ganz aus dem Erwerbsleben heraus zu fallen oder mit langfristigen Nachteilen rechnen zu müssen.


Und auf der Ebene der sozialen Nahbeziehungen heißt das: Es muss wieder einer Diskussion um Arbeits- und arbeitsfreie Zeiten geben, über gerechte Verteilung zwischen Männern und Frauen. Die Diskussion über Verkürzung der Arbeitszeiten ist aus dem Blick geraten, sie wäre aber ganz entscheidend wichtig, damit Menschen auch in ihrem Privatleben wieder mehr selbst über ihr Leben entscheiden können. Man muss in allen drei Dimensionen darüber nachdenken, wie der Schutz vor Marktabhängigkeit gestärkt werden kann. Und man darf nicht alles durch das Nadelöhr der Erwerbsarbeit sehen und alles andere davon abhängig machen.

Gift für die Demokratie

Frage: Soziale Ausgrenzung belastet nicht nur die einzelnen Menschen, sondern auch das Zusammenleben in der Gesellschaft. Welche Gefahren bergen Exklusionsprozesse für die Demokratie?


Exklusionsprozesse sind in verschiedener Hinsicht eine Gefahr für die Demokratie. Zunächst einmal ist Demokratie, wenn man den Gedanken ernst nehmen will, unteilbar. Es ist nicht möglich, dass man bestimmte Gruppe einfach ausschließt. Dadurch, dass man Gruppen schafft, die anhaltend arm oder anhaltend marginalisiert sind, schafft man auch Gruppen, die gleichzeitig aus dem politischen Leben herausfallen. Menschen, die ihr eigenes individuelles Leben über das nächste halbe Jahr planen sollen, werden sich nicht den Kopf zerbrechen, wie sie das Gemeinwesen gestalten könnten. Wir wissen, dass sich Menschen in diesen Lebenslagen von der Politik zurückziehen. Sie haben zwar formell noch ein Wahlrecht, aber sie nehmen es nicht mehr wahr, weil sie überhaupt keine Chance sehen ihr Leben zu gestalten. Also das ist eine Gefährdung der Demokratie.

 

Die andere Gefahr ist, dass in dem Maße wie sich diese Spaltungstendenzen herstellen, die Bessergestellten ihre Positionen gegen die Schlechtergestellten verteidigen. In Zeiten, in denen es heißt, es gibt nicht mehr das Geld für alle, teilt das die Gesellschaft. Das führt zu Ressentiments, das führt auch zur Aufladung sozialer Konflikte in ethnische Konflikte, das führt zu Fremdenfeindlichkeit, das verstärkt elitäre und autoritäre Denkströmungen und Bewegungen und alles das ist für ein demokratisches Zusammenleben Gift. 

 

Politik des Sozialen

Frage: Damit sind wir bei der Frage nach der Politik des Sozialen, für die Sie in Ihrem Buch plädieren?

 

Ja, das wäre ein Punkt, wo es darum geht, dass gesellschaftliche Allianzen wieder möglich werden. Bis in weite Kreise der Mittelschichten hinein besteht ja das Bedürfnis wieder eigenständiger über das Leben zu entscheiden. Und für Menschen in prekären Lebensverhältnissen wird dieser Schutz zur Überlebensnotwendigkeit. Das wäre eine gemeinsame Hoffnung, dass über diese Fragen auch wieder Gemeinsamkeiten entstehen.

 

Auf der anderen Seite ist das natürlich sehr schwierig, solange diese Gemeinsamkeiten politisch nicht thematisiert werden und jeder um sich kämpft gegen diejenigen, die noch schlechter gestellt sind. Im Moment verteidigen die Mittelklassen zum Beispiel den privilegierten Zugang zur höheren Bildung, weil sie darin die entscheidende Voraussetzung für sozialen Aufstieg, für soziale Stabilität sehen. Sie tun dies gegen diejenigen, die gerade einen größeren Zugang zur Bildung haben müssten, um sich in ihrer Lebensperspektive und in der Lebensperspektive ihrer Kinder stabilisieren zur können. Darin sehe ich eine der großen Gefahren der Spaltung.

 

Die Alternative wäre gemeinsam zu sehen, wie man sich gegen diese Marktabhängigkeiten schützen muss. Eine gleichere Gesellschaft ist auch eine Gesellschaft, die insgesamt die Lebensqualität für alle steigert.

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Silvio P. (Freitag, 05 August 2016 10:52)

    Nachwuch droht Gehalt auf Hartz-4-Niveau

    Ende der Wohlstands-Ära: Die Jungen werden ärmer als ihre Eltern

    http://www.stern.de/wirtschaft/geld/mckinsey-studie--die-jungen-werden-aermer-als-ihre-eltern-6971346.html

    oder auch ganz lecker: Verarmung als Megatrend - siehe auch: https://www.berlinjournal.biz/verarmung-kinder-aermer-als-eltern/

    Laut Politik müsse man sich "integrieren" (nach Definition der Politik was das denn angeblich sei). Dazu braucht es in der heutigen Zeit üppige Geldmittel, die die meisten Leute, die angeblich "nicht integriert" sind (auch sehr viele Deutsche), gar nicht aufbringen können.

    Auf einen Zusammenhang stieß die britische Soziologin Marii Peskow in der European Social Survey (ESS): Demnach sei die Bereitschaft zur Wohltätigkeit in egalitären Gesellschaften deutlich schwächer ausgeprägt, als in solchen mit großen Einkommensunterschieden. Die Erklärung dafür liege im sozialen Statusgewinn, den Wohlhabende in ungleichen Gesellschaften erfahren würden, wenn sie Schwächere unterstützten. In egalitären Gesellschaften herrsche hingegen das Bewusstsein vor, dass dank des Sozialstaats für die Schwachen schon gesorgt sei.

    Faulheit gilt in den westlichen Industrienationen als Todsünde. Wer nicht täglich flott und adrett zur Arbeit fährt, wer unbezahlte Überstunden verweigert, lieber nachdenkt als malocht oder es gar wagt, mitten in der Woche auch mal bis mittags nichtstuend herumzuliegen, läuft Gefahr, des Schmarotzertums und parasitären Lebens bezichtigt zu werden.

    Nein, stopp: Nur die armen Arbeitslosen fallen in die Schublade »Ballastexistenz«. Millionenerben, Banker- und Industriellenkinder dürfen durchaus lebenslang arbeitslos und faul sein. Sie dürfen andere kommandieren, während sie sich den Bauch auf ihrer Jacht sonnen.

    Früher glaubten viele Menschen an einen Gott. Wie viele heute noch glauben, da oben säße einer, der alles lenke, weiß ich nicht. Das ist auch egal. Gottes ersten Platz hat im modernen Industriezeitalter längst ein anderer eingenommen: Der »heilige Markt«. Der Finanzmarkt. Der Immobilienmarkt. Der Energiemarkt. Der Nahrungsmittelmarkt. Und der Arbeitsmarkt.

    Der Arbeitsmarkt ist, wie der Name schon sagt, zum Vermarkten von Arbeitskraft da. Wer kein Geld und keinen oder nur sehr wenig Besitz hat, verkauft sie. Die Eigentümer der Konzerne konsumieren sie, um daran zu verdienen. Das geht ganz einfach: Sie schöpfen den Mehrwert ab. Sprich: Der Arbeiter bekommt nur einen Teil seiner Arbeit bezahlt. Den Rest verrichtet er für den Gewinn des Unternehmers.

    Arbeit verkaufen, Arbeit konsumieren: So geschieht es seit Beginn der industriellen Revolution. Denn Sklaverei und Leibeigenschaft wurden ja, zumindest auf dem Papier, abgeschafft.

    Solange Furcht vor Strafe, Hoffnung auf Lohn oder der Wunsch dem Über-Ich zu gefallen, menschliches Verhalten bestimmen, ist das wirkliche Gewissen noch gar nicht zur Wort gekommen. (VIKTOR FRANKL)

    Die Todsünde der Intellektuellen ist nicht die Ausarbeitung von Ideen, wie fehlgeleitet sie auch sein mögen, sondern das Verlangen, diese Ideen anderen aufzuzwingen (Paul Johnson)

    Der Teufel hat Gewalt, sich zu verkleiden, in lockende Gestalt... (Shakespeare)

    Das Heimweh nach der Barbarei ist das letzte Wort einer jeden Zivilisation (Cioran)

    Alle Menschen sind klug - die einen vorher, die anderen nachher (Voltaire)

    Die Gefahr ist, dass die Demokratie zur Sicherung der Gerechtigkeit für diese selbst gehalten wird (Frankl)

    Absolute Macht vergiftet Despoten, Monarchen und Demokraten gleichermaßen (John Adams)

    Moral predigen ist leicht, Moral begründen schwer (Schopenhauer)

    Unser Entscheiden reicht weiter als unser Erkennen (Kant)

    Denn mancher hat, aus Furcht zu irren, sich verirrt (Lessing)

    Die Augen gingen ihm über, so oft er trank daraus... (Goethe)

    Immer noch haben die die Welt zur Hölle gemacht, die vorgeben, sie zum Paradies zu machen (Hölderlin)

    So viele Gefühle für die Menschheit, dass keines mehr bleibt für den Menschen (H. Kasper)

    "Die Dummheit von Regierungen sollte niemals unterschätzt werden" (Helmut Schmidt)